24. Diskussionsplattform anlässlich der Mitgliederversammlung 2012 des Vereins Integrationsnetz Zug zum Thema ›Schreibende MigrantInnen – Diaspora-Literatur in Zug‹

Dienstag 31. Januar 2012, Altstadthalle, Altes Kunsthaus Zug

mit Sigit Susanto und Kanber Colak

Viele Mitglieder und Interessierte besuchten die Mitgliederversammlung 2012 des Vereins Integrationsnetz motiviert durch die Lesung mit den beiden Zuger Schreibenden Sigit Susanto und Kanber Colak. Mit dieser Veranstaltung setzt das Integrationsnetz die bisherige Reihe mit migrantischen SchriftstellerInnen in der Schweiz fort:

SchriftstellerInnen mit nicht deutsschprachigen Wurzeln spielen in der schweizerischen Literatur eine immer wichtigere Rolle. So gingen die letzten drei schweizerischen Buchpreise an Schreibende mit Migrationshintergrund. Im Rahmen von ›Hier und Da. Migration ausgestellt‹ waren am 29. Mai 2010 die von slowenisch-ungarischen Eltern abstammende Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Ilma Rakusa (Schweizerischer Buchpreis 2009) und der in Rumänien geborene Schriftsteller Catalin Dorian Florescu (Schweizerischer Buchpreis 2011), zur Lesung ›Grenz-Gänge‹ über Diaspora-Literatur im Alten Kantonsspital Zug zu Gast. Und am 13. Juni 2010 gab die aus Kroatien stammende Schriftstellerin Dragica Rajčić einen literarischen Workshop für Kinder in den Ausstellungsräumlichkeiten.

Am 31. Januar 2012 rückte nun das Schaffen von in Zug lebenden migrantischen Autoren in den Mittelpunkt. Der auf Java/Indonesien geborene Sigit Susanto und der aus dem kurdischen Teil der Türkei stammende Kanber Colak lasen aus ihren Texten und diskutierten mit dem Publikum über die Bedingungen des Schreibens in der Diaspora, den Umgang mit der Sprache und den Stellenwert von Übersetzungen als wichtiges Instrument zum Bauen von Brücken zwischen Sprachen und Kulturen.

Der erste Gast, Sigit Susanto schreibt hauptsächlich auf Indonesisch. In seiner Heimat hat er mehrere Bücher veröffentlicht, seine Kurzgeschichten werden unter anderem in den Zeitschriften 'KoranTempo' und 'Imajio' publiziert. Seit er in der Schweiz lebt, hat er verschiedene Internetforen zur indonesischen Literatur mitgegründet und nimmt aus der Ferne aktiv am Literaturgeschehen in seinem Heimatland teil. Mit Übersetzungen europäischer Werke ins Indonesische hilft er mit, Brücken zwischen den verschiedenen Literaturszenen zu bauen. Unter anderem übersetzte er - finanziert vom Götheinstitut in Jakarta - den 'Prozess' von Kafka ins Indonesische. Dass der Literaturtransfer haupsächlich in eine Richtung geht, nämlich von Europa nach Asien, kann laut Susanto auch als Zeichen neokolonialistischen Denkens Europas gewertet werden. Gleichzeitig ist beim indonesischen Staat ein spürbares Engagement zu vermissen, die einheimische Literatur in der Welt bekannt zu machen, sprich; Übersetzungen in europäische Sprachen zu finanzieren.

Das 'Brückenbauen' ist nicht nur in seiner literararischen Tätigkeit, sondern auch in seinen Texten ein wichtiges Thema: In den beiden Texten ('Puppenschuhe' und 'Zugersee'), aus denen er vorgelesen hat, geht es um Ein-Blicke von aussen nach innen und umgekehrt. Über seine Eindrücke vom 'Hier', vom Leben in der fremden Heimat Schweiz verschiebt sich unsere Wahrnehmung von scheinbar bekannten Dingen und lässt diese plötzlich fremd und nicht mehr zwingend logisch erscheinen. Aber auch das 'Dort', die Wahrnehmung des Herkunftslandes von hier aus und die Erinnerungen an die alte Heimat verändern sich mit dem Leben in der Diaspora. Er springt mit Witz und Ironie zwischen den Kulturen hin und her, dabei zeigen sich Unterschiede, die bei genauerem Hinsehen gar nicht so gross sind. In einem Text, in einer gemeinsamen Sprache beschrieben, kommen sich die Dinge plötzlich nahe, dies geschieht auch bei seinem ersten Weihnachtsfest, das er in der Schweiz bei seinen Schwiegereltern erlebte:  

›...Das Essen schmeckte gut, aber für mich war es zu viel. Anschliessend gab es noch ein Dessert. In meinem Bauch hatte es keinen Platz mehr. Wenn ich gewusst hätte, dass es mehrere Gänge gab, hätte ich am Anfang nicht so viel gegessen.

Sobald das Dessert kam, begann meine Frau von unseren Ferien in Java bei meiner Familie zu erzählen. Wir besuchten Verwandte von mir, die noch unter einem Dach mit Haustieren lebten. Als wir dort waren, fanden wir junge Ziegen in der Küche. Meine Frau war begeistert und nahm eine auf den Arm. Sie küsste die junge Ziege mehrmals. Mein Bruder sagte entsetzt: "Nachdem sie die junge Ziege küsst, küsst sie dich."

Meine Verwandten amüsierten sich darüber sehr. Später legte meine Frau das Zicklein auf ein einfaches Bett, leider fiel es runter. Meine Frau versuchte es unter dem Bett hervor zu holen. Plötzlich kamen zehn junge Enten mit ihrer Mutter unter dem Bett hervor. Meine Frau war überglücklich. Sie trug ein paar junge Enten hin und her und genoss dieses Erlebnis sehr.

Unterdessen war das Dessert langsam fertig, aber meine Schwiegereltern hatten die Geschichte von meiner Frau nicht richtig verstanden. Mir ging durch den Kopf, dass die Welt, die ich in der Schweiz erlebte, wirklich sehr unterschiedlich war von meiner gewohnten Umgebung in Indonesien und je weiter entfernt man voneinander lebt, um so weniger versteht man sich.

(...)

Am nächsten Morgen ging die ganze Familie zu Fuss zum Friedhof. Meine Schwägerin brachte ein "Mailänderli" mit und legte es auf das Grab ihres verstorbenen Grossvaters (es war früher sein "Lieblingsguezli"). In diesem Moment gingen meine Gedanken zurück zu meiner Mutter nach Java, welche einmal pro Monat eine Tasse Kaffe ins Zimmer meines verstorbenen Vaters hingestellt hatte. In Indonesien glaubt man daran, dass die Geister der Toten oft ihre Familie besuchen.‹
Textausschnitt aus: Sigit Susanto; 'Puppenschuhe'

Der zweite Gast und Vorstandsmitglied des Integrationsnetz, Kanber Colak ist im kurdischen Teil der Türkei geboren, er hat in der Türkei Englisch studiert und lebt seit 2005 in der Schweiz. In seiner Berufstätigkeit als Dolmetscher bei der Caritas in Luzern und als Aufsichtsperson bei den Sozialen Diensten Asyl Zug hat er täglich mit verschiedenen Sprachen zu tun. Über seine Arbeit als Übersetzer und seine Migrationserfahrungen kam Kanber Colak zum Schreiben. Für Ihn geht es beim Übersetzen nicht nur um die Sprache, sondern auch um die dahinter stehende kulturelle Arbeit, ums Übertragen, ums Interpretieren und ums verständlich machen von Dingen, die in der anderen Kultur ohne Erklärungen nicht ankommen. Ihn begleitet die Vielsprachigkeit, das Miteinander und bisweilen Gegeneinander verschiedener Sprachen seit seiner Kindheit. In seiner Heimat sprach er Kurdisch und Türkisch, später kam Englisch dazu und heute spricht er Deutsch in einem Land, in dem die Schrift- oder Standardsprache neben dem Schweizerdeutschen genauso eine Art Fremdsprache ist. Im Text mit dem Titel 'Hallo meine Liebe' an seine Tochter, die im Frühjahr 2012 auf die Welt kommen wird, beschreibt er die sprachliche und kulturelle Situation in der sich viele MigrantInnen hier in der Schweiz befinden. Das schafft bisweilen Verwirrung. Die Vielfalt und den kulturellen Reichtum möchte Kanber Colak auch an seine Tochter weitergeben:

›...Unser Leben hat zwei Seiten, wie ein Medaillon. Wir sitzen zwischen den Stühlen. Bei uns sagt man; Ne ji dèrè ne ji mizgeftè. Das heisst: weder vor der Kirche noch vor der Moschee.

Das wirst du erst im Chindsgi erleben. Dort erfährst du auch, dass du Ausländerin bist. Vielleicht würdest du denken, Ja ich bin Ausländerin, dann sind die anderen also Inländerinnen. Wenn du mich fragen würdest, wäre ich überfordert. Höchstwahrscheinlich wie alle anderen Kinder, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind, wäre dir diese Situation komisch und sogar lustig. Wie ein Wortspiel. Du wirst hier zur Welt kommen, aber du bist nicht von hier. Auf deinem Ausländerausweis, übrigens die Ausweise sind auch Ausländer, wird es geschrieben, dass du das Licht der Welt im Kanton Zug erblickt hast, aber wieder du bist keine Inländerin, wie du es nennst. Das ist die erste Stufe des Lebens, wo du unseren zwei Welten begegnest. Aber dass hat ja auch Vorteile meine Liebe, mach dir keine Sorge bitte.

Deine zukünftigen Schulkolleginnen Lena, Christopf, oder Simon und Fabian werden eine Heimat haben, aber deine sind zwei. Obwohl du für beide fremd bist.

Die Schweiz ist ein sprachreiches Land. Das erleben am Besten die Kinder, Schweizer Kinder auch. Zu Hause Schwiitzerdütsch, in der Schule Hochdeutsch. Sie ist nicht so hoch wie du denkst, aber das lernst du auch. Und unsere Muttersprache, Kurdisch, wirst du auch lernen, Türkisch wirst du dazu gratis haben. Überforderung? Ich bitte dich, es gibt noch, Englisch, ab der dritten Klasse, es könnte in der Zukunft sogar ab dem Kindergarten sein.  Danach kommt Französisch. Fürchte dich nicht bitte. Diese sind die schönen Seiten des Lebens. Was für dich eine Überforderung oder auch Belastung sein könnte, ist unsere, eigentlich deine zweite Heimat. Es ist klar, du wirst die Schweiz als deine Heimat empfinden. Das ist auch in Ordnung.‹
Textausschnitt aus: Kanber Colak; 'Hallo meine Liebe'

Die angeregten Diskussionen während der Lesung zeigte, dass die Vielsprachigkeit für Zugewanderte und für Einheimische ein wichtiges Thema ist. Wir können zwar nicht alle Sprachen lernen, die bei uns gesprochen werden, aber wir können ins Deutsch übersetzte Literatur lesen. Das ist durchaus als Privileg zu verstehen. Und das Integrationsnetz sieht es als besonderes Privileg, wenn Personen mit nicht deutschsprachigem Hintergrund in der Schweiz auf Deutsch schreiben und uns ihre Heimat und gleichzeitig unsere eigene Heimat näher bringen. Die Beschäftigung mit Literatur mit migrantischem Hintergrund ist nicht zuletzt auch eine Form der Anerkennung für die kulturellen Leistungen derjenigen Personen, die in einem anderen Land eine neue Sprache zu lernen hatten und damit kreativ umgehen...

Eine Literaturgruppe zum Thema Migration, Sprache und Schreiben:

Sigit Susanto ist zurzeit daran, eine Literaturgruppe hier in Zug zu gründen. Damit will er die Brücken von seinem schriftstellerischen Engagement in Indonesien zurück in die Schweiz schlagen. Ein Mal im Monat sollen sich Interessierte treffen, ihre in der Muttersprache geschriebenen Texte vorstellen oder direkt schreiben können. Die Absicht ist zudem, sich gegenseitig bei Übersetzungen ins Deutsche zu helfen. Die Gruppe ist für alle an Literatur Interessierten offen, für ZugerInnen mit und ohne fremdsprachigen Wurzeln, für Personen, die selbst schreiben und für diejenigen, die lieber die Texte von anderen lesen und diskutieren.

Interessierte melden Sie sich bitte beim INZ an info@integrationsnetz.org oder direkt bei Sigit Susanto an mbeling@gmx.ch.

Die Neue Zuger Zeitung vom 02.02.2012 hat ausführlich über die Lesung berichtet. Den Artikel dazu können Sie hier als PDF herunterladen.

An der Mitgliederversammlung wurden alle bisherigen Vorstandsmitglieder wiedergewählt, als Präsidentin wurde Valentina Smajli verabschiedet; gemäss den Statuten darf eine Person maximal drei Amtszeiten hintereinander dem Verein vorstehen. Das Präsidium übernimmt neu Ganga Jey Aratnam. Den Vereinsmitgliedern wurde ausserdem eine umfangreiche Revision der Statuten beantragt, welche an der Versammlung angenommen und per sofort in Kraft gesetzt worden ist.

Die überarbeiteten Statuten können auf unserer Website unter 'Über uns' > 'Statuten' eingesehen und heruntergeladen werden.


›Vom Angeln und von Geistergeschichten‹ Artikel aus der Neuen Zuger Zeitung vom 02.02.2012 (PDF)


drucken

back