22. Diskussionsplattform anlässlich der Jahresversammlung des Vereins Integrationsnetz Zug
zum Thema ›Überfremdung einst und heute‹ – Migrationspolitik in Geschichte und Gegenwart


Dienstag, 28. Juni 2011, Stadt- und Kantonsbibliothek Zug (Dachraum)

Mit Dr. Luís Calvo Salgado, Universität Zürich, und dem Film ›Les années Schwarzenbach‹

Unter der Leitung der Präsidentin Valentina Smajli führte das Integrationsnetz Zug seine Jahresversammlung vor rund 30 Anwesenden durch. Viele Mitglieder und Interessierte besuchten die Mitgliederversammlung motiviert durch die Veranstaltung mit dem Historiker Luís Calvo Salgado und einem Film zu den Schwarzenbach-Initiativen. Die beiden Abstimmungen haben die Migrationspolitik in der Schweiz wesentlich geprägt, für das Integrationsnetz Zug war dies Grund genug, einen vertieften Blick zurück in die 1970er-Jahre zu werfen. Aus heutiger Zeit wirken die Erreignisse damals befremdend und gleichzeitig allzu bekannt... Calvo Salgado kennt die Geschichte der Migration persönlich und beruflich: Er selbst stammt aus Spanien, hat an der Universität Zürich Geschichte studiert und schreibt seine Habilitationsschrift über die galizischen Einwanderer in die Schweiz.

Vor 41 Jahren, Im Juni 1970, dominierte ein Thema die Schweiz: die Abstimmung über die sogenannte ›Überfremdungsinitiative‹. Der Dokumentarfilm ›Les années Schwarzenbach‹ von Salvatore Bevilacqua, Bruno Corthésy, Katharine Dominice und Luc Peter (französisch mit deutschen Untertiteln, 2010) lässt MigrantInnen der ersten und zweiten Generation aus der Romandie zu Wort kommen, die diese Zeit erlebt haben.

Die Initiative wollte den Anteil der AusländerInnen in der Schweiz in jedem Kanton auf 10% begrenzen. Genf als UNO-Stadt wäre die einzige Ausnahme gewesen, dort wäre ein Anteil von 25% Ausländern erlaubt gewesen. Die Arbeitgeberverbände äusserten sich klar gegen das Begehren, denn die Wirtschaft der damaligen Hochkonjunktur benötige billige Arbeitskräfte, die Politik und die öffentlichen Institutionen hingegen zeigten sich gegenüber der plötzlich aufkommenden Überfremdungsthematik weitgehend überfordert. Schliesslich wurde die Initiative mit 54% Nein-Stimmen abgelehnt. Wäre die Initiative angenommen worden, hätten rund 300'000 Menschen ausgewiesen werden müssen. 1974 wurde ein zweites Mal ein ähnliches Anliegen (Begrenzung der ausländischen Bevölkerung auf 12%) an der Urne abgelehnt, dieses Mal mit 67% Nein-Stimmen allerdings deutlich.

Mit seinen Erläuterungen hat der Historiker Luís Calvo Salgado den Film in den historisch-politischen Kontext eingebettet. Gleichzeitig hat er Parallelen aber auch Unterschiede zwischen den Diskussionen über die Zuwanderung um 1970 und den heute wiederaufflammenden sichtbar gemacht.

Damals wie heute werden die Überfremdungsdebatten weniger durch konkrete Zahlen, als durch Ängste und Überforderungen geleitet. Die damalige Fremdenpolizei, Lehrkräfte in den Schulen oder das Gesundheitswesen wurden innert kurzer Zeit mit in dieser Zeit weitgehend unbekannten politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen konfrontiert: Kaum überwindbare Sprachbarrieren, die vor 40 Jahren als fremd empfundene (und heute bekannte, wenn nicht sogar schon über weite Strecken verinnerlichte) Kultur der südlichen Nachbarländer, sowie die Angst vor einem Verlust der Arbeitsplätze schürten Ängste und Ressentiments. Vor allem in den reformierten Kantonen trug die Furcht vor einer Überhandnahme der katholischen Bevölkerung ihren Teil zur Unterstützung der Initiativen bei. Paradoxerweise hat gerade James Schwarzenbach, der selbst zum Katholizismus konvertiert hatte, den konfessionellen Aspekt der Überfremdung immer wieder hervorgehoben.

Mitten im Kalten Krieg befürchteten weite Kreise zudem eine Unterwanderung durch den Kommunismus, denn nicht wenige Arbeitsmigranten aus dem kommunistisch-katholisch konservativ zweigeteilten Italien waren kommunistisch gesinnt. Selbst Anhänger linker Schweizer Parteien befürchteten eine soziale Unterschichtung der schweizerischen Gesellschaft und zeigten Sympathien für die Anliegen Schwarzenbachs. Schon zuvor hatten die Gewerkschaften, welche zu dieser Zeit ausschliesslich die schweizeischen ArbeitnehmerInnen vertraten, sich ebenfalls gegen die angebliche Überfremdung ausgesprochen. So fühlten sich die ausländischen ArbeiterInnen zu Recht nicht von den Gewerkschaften vertreten und organisierten sich selbst. Erst nach wilden Streiks, v.a. im Baugewerbe, begannen sich die Gewerkschaften für MigrantInnen zu öffnen und ihre Anliegen zu vertreten.

Calvo Salgado betonte, dass damals wie heute auf Seiten der Verwaltung im Umgang mit MigrantInnen ein grosser Ermessensspielraum bestand und nach wie vor besteht. Dieser wird in vielen Fällen kaum zu deren Gunsten ausgelegt: Die in den 1970-er Jahren erniedrigenden grenzmedizinischen Reihenuntersuchungen zur Bekämpfung der Tuberkulose und die allzu buchstabengetreue Anwendung des Saisonnierstatuts bzw. die Verhinderung des Familiennachzugs oder die offen negative Selektion von migrantischen Kindern beim Übertritt in weiterführende Schulen sind Beispiele aus der damaligen Zeit. Die restriktive Auslegung der Härtefallregelungen im Asylbereich ist ein Beispiel unter vielen aus der Gegenwart. Gerade in der schweizerischen Demokratie verfügt die Verwaltung über einen nicht zu unterschätzenden Handlungsspielraum im Umgang mit Gesetzen und Verordnungen: Das Nichtanwenden von Ermessensspielräumen kann sowohl als Zeichen von Überforderungen und Unsicherheiten, als auch von indirekt-direktem Ressentimens in der Verwaltung als Spiegelbild der Gesellschaft gelesen werden.

Laut Calvo Salgado kümmerte sich die Migrationsforschung bisher ausschliesslich um die MigrantInnen selbst und noch kaum um die Akteure auf institutioneller Ebene. Ausführliche Interviews mit Politikern, LehrerInnen, Beamten, Ärzten, etc. wären für ein besseres Verständnis der jüngeren Migrationsgeschichte dringend nötig.

Die Abstimmungskämpfe über die beiden Überfremdungs-Initiativen 1970 und 1974 verliefen ausserordentlich emotional und rissen innerhalb der Schweizer Bevölkerung tiefe Gräben auf. Viele MigrantInnen fühlten sich von häufig offen gegen sie gewandten fremdenfeindlichen Äusserungen verletzt und sahen ihre Zukunft in der Schweiz auch nach Ablehnung der Initiativen in Frage gestellt. In den teils sehr persönlichen Filminterviews wurde deutlich, dass die Verunsicherung und das Gefühl – trotz guter Integration – in der Schweiz nicht angenommen zu sein, bis in die zweite Einwanderergeneration reichten. Immerhin haben die beiden Initiativen dazu geführt, eine eigentliche breiter angelegte schweizweite Integrationspolitik zu begründen. Auf der anderen Seite haben Schwarzenbach und seine Mitstreiter einem Fremdenhass die Türen geöffnet, welcher auch heute bis in breite Kreise von Bevölkerung und Politik hinein reicht.

2011 werden wieder Zuwanderungsbegrenzungen gefordert – sei es aus sogenannt ›ökologischen‹ Gründen oder von Seiten fremdenfeindlicher Parteien. Das sich beschleunigende (Bevölkerungs-) Wachstum löste in jüngster Zeit neue und gleichzeitig bekannte Überfremdungsängste aus. Diese Ängste richten sich im Gegensatz zu den 1970er-Jahren – ganz besonders in Zug – auch gegen die hochqualifizierten gutverdienenden NeuzuzügerInnen. Heute wird vor einer sogenannten sozialen ›Überschichtung‹ gewarnt, von der sich nun auch der Mittelstand bedrängt fühlt; die unter dem Deckmantel der Wohnraumknappheit geführte Überfremdungsdebatte ist nur ein Beispiel dafür.  Der Verein Integrationsnetz Zug plant in diesem Zusammenhang eine öffentliche Veranstaltung mit den Kandidatinnen und Kandidaten der eidgenössischen Wahlen rund um die Thematik ›Migration, Politik und Partizipation‹. Seit 2006 wurden bereits mehrere Veranstaltungen in dieser Reihe durchgeführt, zuletzt vor den Zuger Gesamterneuerungswahlen im Herbst 2010.

Aus dem Vereinsvorstand trat Burak Günes zurück, während Silvia Zengin und Kanber Colak neu in das Gremium gewählt wurden. Im Präsidium wurde Valentina Smajli für ihre dritte und gemäss Statuten letzte Amtszeit bestätigt. Der Vorstand des Integrationsnetz Zug freut sich die neuen Vorstandsmitglieder begrüssen zu dürfen und freut sich auf eine anregende Zusammenarbeit.


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