Plattform 17:

Mittwoch, 18. November 2009, Stadt- und Kantonsbibliothek Zug (Dachraum)

Thema: ›Frauen und Islam‹
mit Saïda Keller-Messahli

Viele verstehen Islam und Gleichberechtigung als unvereinbare Gegensätze. Wie sieht aber die innerislamische Debatte diesbezüglich aus?

Im Rahmen unserer vierten und letzten Diskussionsplattform konnten wir dazu mit Saïda Keller-Messahli eine der bekanntesten und profiliertesten Fachpersonen begrüssen. Sie blickt des Weiteren selbst auf eine bewegte Migrationsgeschichte zwischen Tunesien und der Schweiz zurück. Eingeladen wurde sie insbesondere auch in ihrer Funktion als Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam, das sie vor 5 Jahren auch gegründet hat.

Der Koran und die Frauen

In ihrem Inputreferat informierte Keller-Messahli – explizit über mediale Allgemeinplätze hinaus – dann in einem ersten Teil fundiert über den Platz der Frauen im Koran: In allen drei grossen, monotheistischen Religionen spiele ›die Frauenfrage‹ eine prägende Rolle – es beständen gewissermassen gemeinsame patriarchale Wurzeln, da es meist Männer seien, die das göttliche Wort erhalten hätten. Es seien weiter auch Männer, die über das heilige Wort wachten, dieses kanonisierten und geschlechterungleiche Strukturen innerhalb etwa von Kirchen legitimierten. In den heiligen Schriften selbst sei auf zahlreiche Stellen verwiesen, die die Stellung der Frau markant abwerteten: Gemäss Koran, Sure 4 haben etwa Männer Vollmacht und Verantwortung gegenüber den Frauen, weil Gott die einen vor den anderen bevorzugt hat und weil die einen Vermögen für die anderen ausgeben. Immerhin sehe man daran auch den Anspruch von Frauen auf Unterhalt, was für das 7. Jh. nicht selbstverständlich ist.

Allah habe an und für sich kein Geschlecht. Doch 'unterhalb' von Allah sind die wesentlichen Akteure fast ausschliesslich Männer. Das islamische Gelehrtentum wurde und wird durchwegs von Männern getragen und gelehrt (mit wenigen Ausnahmen wie etwa Aischa). Patriarchale Strukturen sind in den arabischen Regionen jedoch bereits vorislamisch: Der Prophet hat diese Strukturen dann nicht abgeschafft, sondern durch ihre Erhebung als göttliche Ordnung stabilisiert. Sure 2, Vers 228 des Korans lautet: ›Die Männer stehen eine Stufe über ihnen‹ (gemeint sind die Frauen). Diese Zweitrangigkeit der Frauen hat vielfältige Gestalten und zeigt sich z.B. auch im islamischen Recht, etwa im geringeren Gewicht der Frauen im Zeugenrecht und ihrer Benachteiligung im Erbrecht (Sure 4, Vers 11). Daran ändern auch etliche Koranstellen nichts, die die Männer ihrerseits ermahnen, die Frauen (ge-)recht zu behandeln.

Wer darauf beharre, den Koran in seinem Wortlaut anzuwenden, nehme in der Regel zitierte Wortstellen als Basis. Daneben gibt es gemäss Keller-Messahli aber auch eine ›andere‹ Realität – sprich Versuche, den heiligen Kontext anders zu lesen bzw. zu verstehen. Zu solchen DenkerInnen gehören namhafte Persönlichkeiten wie etwa der ägyptische Linguist Nasser Hamid Abussaid, der heute im Exil lebt. Sein ›Verbrechen‹ bestand einzig in der Ansicht, dass der Text des Koran nicht von Gott, sondern vom Menschen geschaffen wurde.
Über diese Frage finde aktuell eine heftige Debatte innerhalb der islamischen Welt statt. Sie sei v.a. für jene Leute wichtig, die diesen Text anders lesen und mit unserer Zeit vereinbaren wollen.

Die islamische Realität der Frauen

Gemäss Keller-Messahli sind mehrere verschiedene, koexistierende Wirklichkeiten zu unterscheiden: Es gibt sowohl Frauen, die darunter leiden, dass sie nach wie vor nicht aus dem Geist des 7. Jh. herausgeholt werden. Gleichzeitig gibt es in vielen muslimisch geprägten Ländern zahlreiche Errungenschaften, die den Frauen zu mehr Rechten verhelfen. Dazu erwähnt sei das Verbot der Polygamie in Tunesien; Jemen und Somalia anerkennen die Gleichstellung der Frau; in Ägypten, Jemen und Somalia wurde die Verstossung der Ehefrau Gegenstand von Gerichtsverfahren; in Jemen und Somalia hat die Mutter ein subsidiäres Sorgerecht und in Ägypten ein Besuchsrecht. Überall dort sind folglich auch Anstrengungen vorhanden, sich vom islamischen Recht zu lösen.
Gleichzeitig liessen sich zahlreiche Beispiele für genau gegenteilige Entwicklungen nennen: Ayatollah Khomeini setzte etwa im Iran das bestehende, fortschrittliche Familienschutzgesetz ausser Kraft. In vielen islamisch geprägten Ländern wurden und werden schliesslich auch westliche Werte kopiert, z.B. übernahm die Türkei 1926 das Zivilgesetzbuch nach schweizerischem Vorbild. Ein Kulturkampf findet auch innerhalb der islamischen Welt selbst statt: Starken Kräften, die sich um Menschenrechte bemühen, stehen starke Kräfte, die auf dem Buchstaben des Korans beharren, gegenüber. Das Forum für einen fortschrittlichen Islam in der Schweiz versteht sich laut Keller-Messahli als Unterstützung für alle, die versuchen, Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie mit dem muslimischen Glauben in Einklang zu bringen. Das ist keinesfalls ein bescheidenes Vorhaben. Das Forum ist jedoch überzeugt, dass sich diese Werte zum Islam in eine harmonische Beziehung bringen lassen.

›Sich-Lösen‹ und ›Sich-Öffnen‹ als integrationspolitische Herausforderungen

In der anschliessenden Diskussion wurden denn auch fortschrittliche Elemente innerhalb des Islam selbst betont, etwa wenn es um soziale Gleichheit geht. Ebenso wurde festgehalten wieviel dem Islam welt- und schweizweit derzeit eigentlich abverlangt werde, denke man vergleichsweise an unverändert konservative Tendenzen innerhalb der katholischen Kirche (Fragen zur Verhütung, usw.).
Gemäss Einschätzung der Referentin unterstützen von rund 400'000 MuslimInnen in der Schweiz über 80% Haltungen, wie sie auch das Forum vertritt. Die meisten seien dafür, dass ein modernes Verhältnis hergestellt werde zwischen dem Genuss des modernen Lebens und religiösen Werten. Manchmal entständen Differenzen zu den VertreterInnen konservativerer Haltungen, das Forum bemühe sich aber, immer wieder auf diese zuzugehen. Zuweilen gäbe es aber Differenzen, die dann halt nicht überbrückbar seien (Beispiel Homosexualität).

Sozialpsychologisch sehr schön zeigte Keller-Messahli schliesslich die Situation muslimischer Frauen in der Diaspora auf: ›Ganz wichtig ist die Verbundenheit und das Verbunden-Bleiben mit der Gemeinschaft. Gemeinschaft will immer im Leben von Individuen mitreden, ganz speziell bei Frauen. Eine muslimische Frau, die nach Europa kommt, muss sich zuerst mit der Situation anfreunden, dass die Gemeinschaft, wie sie sie kennt, nicht mehr da ist. In einem zweiten Schritt muss sie die neue Freiheit auch nutzen lernen. Der Preis dafür kann Einsamkeit sein. Erst wenn man diesen Preis für die Freiheit verstanden hat, ist man fähig, sich eine eigene Gemeinschaft aufzubauen, die sich radikal unterscheidet von der religiösen Schicksalsgemeinschaft. Diese neue Gemeinschaft kann man aber selber gestalten. Es ist gleichzeitig auch die grösste Herausforderung der Integration an und für sich: Die Herausforderung des ›Sich-Lösens‹ und des ›Sich-Öffnens‹, die auch misslingen kann. Für derartige Übergänge braucht es mehrheitsgesellschaftliche Unterstützung – und mitunter auch einfach einmal auch eine zweite Chance.‹

Flyer (PDF)


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