Plattform 15:

Mittwoch, 30. September 2009, Stadt- und Kantonsbibliothek Zug (Dachraum)

Thema: ›Islam zwischen Stigma und Identität‹
– mit Amir Sheikhzadegan

›Muslimische Frauen sind radikale Feministinnen, Burkaträgerinnen – und alles dazwischen!‹

Der iranisch-schweizerische Soziologe und Islamforscher Amir Sheikhzadegan gab den inhaltlichen Input zur Zweiten Diskussionsplattform, die am 30.09.2009 in der Zuger Stadt- und Kantonsbibliothek stattfand.

Der von Cilem Toere kompetent moderierte und durch Amir Sheikhzadegan inhaltlich eingeführte Abend stand ganz im Zeichen der Identitätsfragen. Der Referent befasst sich denn an der Universität Fribourg auf wissenschaftlicher Ebene auch mit islamischer Identität im europäischen – und schweizerischen - Raum.

Vor rund 20 Teilnehmenden entwickelte Sheikhzadegan erst Schicht um Schicht einen komplexen und facettenreichen Begriff von Identität, der auf die eigene Person, auf Beziehungen, auf den Blick des persönlichen Umfeldes oder auf die Zugehörigkeit zu einer religiösen, politischen, ethnischen oder sprachlichen Gruppe bezogen sein kann. Die Gruppenidentität (etwa eine muslimische Glaubensrichtung) ist damit grundsätzlich nur ein Teil einer menschlichen Identität und liefert nur eine Teilantwort auf die Frage: ›Wer bin ich?‹

Islamische Identität könne von anderen zugeschrieben, selbst gewählt oder erklärt sein. Je nachdem dominierten statt rein religiöser auch kulturelle Aspekte, etwa Rituale und Bräuche einer geographischen Region oder eine gemeinsame ethnische Werteorientierung. Der aktuelle Stand der Identitätsforschung geht von vielfältigen, von so genannt multiplen Identitäten aus. Identität wird als Prozess, als bewegte Entwicklung, weniger als gegebener Zustand gesehen. Wenn Identitäten ›beschädigt‹ werden, sei dies in Bezug auf Körpereigenschaften, auf Religion, Ethnie oder Schicht, so wird dies als Stigma oder Stigmatisierung bezeichnet.

Muslimische Identitäten in der Schweiz?

Muslime in der Schweiz gehören einer Vielzahl von Nationalitäten und Ethnien an – sie verfügen ebenso über eine Vielzahl von Identitäten. Sheikhzadegan bezeichnet sie als weitgehend integriert (worauf wir in der folgenden Diskussionsplattform vertieft eingehen werden). Menschen muslimischen Hintergrunds in der Schweiz seien ausserdem mehrheitlich laizistisch orientiert, das heisst, sie befürworten eine klare Trennung von Staat und Kirche, wobei religiöse Belange vom Staat ausgeklammert sind und primär dem privaten Bereich überlassen bleiben.

Die Auffassungen von – und Zugänge zum Islam gehen hierzulande weit auseinander: Von sehr ländlich bis urban, von wenig privilegiert bis beruflich äusserst erfolgreich, von radikalen Feministinnen bis zu Burka-Trägerinnen, Personen mit muslimischem Hintergrund haben ganz unterschiedliche politische und soziale Positionen.

Führt Stigmatisierung von Islam zu ›Erst-recht-Identität‹?

Noch könne man in der Schweiz nicht grundsätzlich davon ausgehen, dass Islam ein Stigma oder eine Quelle von Diskriminierung sei. Wenn gegenwärtigen, bedenklichen Tendenzen aber nichts entgegengesetzt werde, dann könnte Islam in der Öffentlichkeit tatsächlich zunehmend als aggressiv-missionarisch, integrationshemmend, frauenfeindlich o.ä. dargestellt werden. In der Wissenschaft spricht man bei derartigen Radikalisierungen und deren Folgen mitunter von ›inversion of identity‹ oder eben ›Erst-recht-Identität‹: Die so Diskriminierten oder Stigmatisierten, die Muslime, könnten die Zuschreibungen irgendwann selbst übernehmen, für sich umformulieren und anpassen – bis hin zu effektiv radikal-religiösen Haltungen.

Noch ist ein grosser Teil der Schweizer Muslime durch Offenheit und Bereitschaft zur Öffnung hin zu neuen und vielfältigen Identitäten – auch der schweizerischen – gekennzeichnet. ›Wenn sie zuwenig Bereitschaft dazu zeigen, so ist das stärker durch ihre soziale Lage als durch ihren Glauben bedingt‹, meint Sheikhzadegan.

Die rege Diskussion im Anschluss an dieses Inputreferat befasste sich mit der innerislamischen Debatte und Kritikkultur (die in der Schweiz gemäss Sheikhzadegan viel schwächer ausgeprägt ist, als etwa im Iran), mit der Islam-Polemik von Seiten rechtsgerichteter Parteien weltweit, Islam und Atheismus und insbesondere auch mit dem eigentlichen Inhalt der Sharia, der dem grössten Teil der Nicht-Muslime weitgehend unbekannt zu sein scheint. Hier bleibt anzusetzen und weiter Verständigungs- und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, in der Mehrheitsgesellschaft, innerhalb und zwischen den (Religions-) Gruppierungen.

Ein besonderer Akzent wird auf die Unterscheidung genuin religiöser und rein kultureller Traditionen und Praktiken gelegt: Sheikhzadegan erwähnt dazu als Beispiel die verheerende Genitalbeschneidung bei Frauen, wie sie etwa im Sudan vorgenommen wird: Sie findet keine Grundlage im Koran, wird jedoch von Menschen, die sie praktizieren, meist dennoch darauf zurückgeführt. Solche unbegründeten Vermischungen finden ihre Ursachen mitunter in fehlenden Arabischkenntnissen, Analphabetismus und lokalen, mündlichen Überlieferungen.

Flyer (PDF)

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